Ein Freiheitsbrief mit weitreichender Bedeutung

  28.03.2023 Aktuell, Foto, Burgdorf, Gesellschaft

Am vergangenen Samstagabend feierte die Stadt Burgdorf den Auftakt zum 750-Jahr-Jubiläum der Burgdorfer Handfeste. Zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Sport und Kultur sowie der Burgergemeinde, Kirche und Verwaltung versammelten sich im Gemeindesaal im Kirchbühl, um diesem ganz speziellen Anlass beizuwohnen. Ebenfalls anwesend waren Gäste aus den deutschen und schweizerischen Zähringerstädten Freiburg im Breisgau, Bräunlingen, Villingen-Schwenningen, Weilheim an der Teck, Neuenburg am Rhein, Freiburg im Üechtland, Rheinfelden, Murten und Thun.

Die Handfeste – der Freiheitsbrief
Die Burger der Stadt Burgdorf erhielten die Handfeste von Graf Eberhard von Habsburg-Laufenburg und dessen Gattin Anna von Kyburg. Die Urkunde, bestehend aus drei Pergamentbogen, ist datiert vom 29. September 1273. Sie ist bis heute vollständig erhalten und momentan in der Stadtbibliothek zu bewundern. Die Handfeste regelte zahlreiche Aspekte des Gemeinwesens, definierte Pflichten der Einwohner/innen, bekräftigte aber auch Rechte, welche Burgdorf im Laufe der Jahre erworben hatte, und gewährte der Stadt und ihren Bürgern neue zusätzliche Freiheiten. Die Handfeste wird deshalb auch als Freiheitsbrief bezeichnet.

Ein Meilenstein auf dem Weg zur kommunalen Eigenständigkeit
Charlotte Gübeli, Gemeinderätin und stellvertretende Stadtpräsidentin, betonte in ihrer Ansprache die Bedeutung der Handfeste als den Beginn der kommunalen Eigenständigkeit, als Anfang einer langsam fortschreitenden Geschichte der Freiheit und Unabhängigkeit von der Herrscherklasse. Der Erhalt des Freiheitsbriefs gilt als wesentlicher Meilenstein auf dem Weg zu Mitbestimmung und individueller Eigenverantwortung und bildet die Grundlage für eine prosperierende Entwicklung der Stadt Burgdorf. In den nachfolgenden Jahrzehnten wurde die Handfeste mehrmals angepasst, ergänzt und erweitert. Im Jahr 1331 erhielt Burgdorf von den hoch verschuldeten Kyburgern schliesslich die schriftliche Zusage, dass die Stadt nicht verpfändet werden dürfe. Die Handfeste lässt sich als Ergebnis eines komplexen Aushandlungsprozesses zwischen der Herrschaft und der Gemeinschaft von Menschen, die zusammen in einem Stadtgebilde leben, interpretieren.

«Freiheit fällt nicht vom Himmel»
«Wie wichtig die Entwicklung einer Kultur des Aushandelns und Austarierens immer noch ist, zeigt uns die heutige Weltsituation. Wir müssen uns Freiheit im Sinne von Mitbestimmung und geteilter Verantwortung sowie gute Lebensbedingungen für alle immer wieder neu erarbeiten. Freiheit fällt nicht einfach so vom Himmel, sie entsteht durch ständigen Dialog», hält Charlotte Gübeli fest. Auch heute muss das Zusammenleben in der Stadt organisiert werden. Die Themen sind aber ganz andere als vor 750 Jahren: «Mit der Digitalisierung und der Frage nach sozialer Gerechtigkeit kommen neue Herausforderungen auf uns zu, denen wir uns zum Besten Burgdorfs stellen wollen. Wir sind zugleich aber auch Teil einer Welt, die immer vernetzter wird. Die Auswirkungen des Klimawandels, von Kriegen und Pandemien sind überall spürbar. Wir erleben diese direkt, sie betreffen uns alle und gemeinsam tragen wir einen Teil der Verantwortung für die Lösung dieser Probleme. Die Stadt Burgdorf hat sich deshalb bewusst entschieden, die Eröffnung des Jubiläumsjahres auf den 25. März 2023 festzusetzen, den Tag der ‹Earth Hour›. Die ‹Earth Hour› setzt weltweit ein Zeichen für mehr Klima- und Naturschutz. Überall auf der Welt werden an diesem Tag, am Abend von 20.30 bis 21.30 Uhr, die Lichter gelöscht. Auch in Burgdorf wird die Strassenbeleuchtung der oberen Altstadt für eine Stunde ausgeschaltet. Schloss und Stadtkirche verzichten ebenfalls auf die Fassadenbeleuchtung. Dieses Beispiel soll uns daran erinnern, dass wir als Weltgemeinschaft für die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder verantwortlich sind. Heute gedenken wir gemeinsam der Vergangenheit, gestalten aber zugleich die Gegenwart und ermöglichen so die Zukunft.» Charlotte Gübeli überbrachte den Anwesenden Grüsse von Stadtpräsident Stefan Berger, der infolge Krankheit der Feier leider nicht beiwohnen konnte.

«Ein Freibrief für die Zukunft»
Rainer Schwinges, emeritierter Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Bern, stellte seine Ausführungen unter den Titel «Ein Freibrief für die Zukunft». Die Handfeste von 1273 sei für die Stadt Burgdorf, die damals höchstens 500 Einwohner/innen zählte, eine entscheidende Station auf dem Weg in die Zukunft gewesen. Zu den wichtigsten der festgehaltenen Privilegien gehörte das Recht der Bürgerschaft, sich fortan selbst Statuten oder Gesetze geben zu können und diese zu ändern oder zu ergänzen. Damit wurden der Stadt innere und äussere Entfaltungsmöglichkeiten gewährt.

Städteboom im hohen Mittelalter
Die Burgdorfer Handfeste entstand im hohen Mittelalter, das vom 11. bis zum 13. Jahrhundert dauerte –in einer Zeit des Aufbruchs und der Umwälzungen, die viele bedeutende Innovationen hervorbrachte. Das hohe Mittelalter gilt als wichtigste Phase der Entstehung und Ausbreitung der Städte. Überall in Europa kam es zu neuen Stadtgründungen. Die Entwicklung der Städte führte zu Konflikten mit der Herrschaft. Für beide Seiten war es lebensnotwendig, Rechtssicherheit zu schaffen. Zwischen Herrschaft und Städten, die nach Freiheit und letztlich Autonomie strebten, wurden grundsätzliche Vertragsverhältnisse ausgehandelt. In diesem Kontext entstanden die sogenannten Handfesten.

Wiege der liberal-bürgerlichen Mentalität
In den städtischen Zentren entwickelte sich schliesslich eine bürgerliche Mentalität, die zu den Wurzeln des modernen liberalen Bürgertums gehört. Wie bedeutend dies für unsere Gesellschaft bis heute ist, offenbart Schwinges zufolge ein Blick auf das autoritär regierte Russland, wo eine solche kommunale Entwicklung weitestgehend ausblieb. Die russische Bevölkerung unterstand stets direkt dem Zaren. Daran änderte auch die kommunistische Herrschaft kaum etwas. Die Folgen der Schwäche des russischen Bürgertums sind bis heute spürbar – mit fatalen Konsequenzen.  
Diese für die Herausbildung der Moderne so entscheidende bürgerliche Mentalität spiegelt sich gemäss Rainer Schwinges auch in der Burgdorfer Handfeste. Anders als die Landbewohner, die ihrem Dienstherrn verpflichtet waren, genossen die grundbesitzenden Stadtbewohner weitaus mehr persönliche Freiheiten. Artikel 51 der Burgdorfer Handfeste besagt: Wer nach Burgdorf kommt, das Bürgerrecht erworben und Jahr und Tag vor aller Augen ohne rechtliche Einsprache hier gewohnt hat, kann nicht mehr als Höriger von seinem ehemaligen Herrn auf dem Land beansprucht werden. Daraus resultierte im 19. Jahrhundert der Ausspruch «Stadtluft macht frei» in Umkehrung der Aussage «Landluft macht unfrei».

Apéro bei Laternenlicht
Als Moderatorin führte die langjährige Radio-SRF-Journalistin Danièle Hubacher durch den Abend. Schauspieler Thomas Mathys verlas, verkleidet als Herold, immer wieder einzelne Artikel aus der Handfeste. Musikalisch umrahmt wurde die Feier von Mirjam Hässig und Manuel Sidler. Weiter warf Slam-Poet Remo Zumstein einen humorvollen Blick auf Entstehung und Bedeutung der Handfeste.
Pünktlich zur «Earth Hour» fand sich die Gesellschaft in der dunklen Altstadt unter den Marktlauben zu einem reichhaltigen Apéro ein. Für Licht sorgten zahlreiche Laternen, bedruckt mit Artikeln aus der Handfeste, die eine einzigartige Stimmung erzeugten. Der Anstich des Burgdorfer Handfeste-Biers durch Oliver Honsel, Braumeister der Burgdorfer Gasthausbrauerei, wurde mit viel Applaus quit­tiert. Die Anwesenden genossen das Zusammensein und tauschten sich im geselligen Gespräch intensiv über die Geschichte der Stadt Burgdorf aus.

Markus Hofer


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