Der Alltag mit einem schwer behinderten Kind

  28.02.2023 Aktuell, Foto, Gesellschaft

Der Rare Disease Day geht zurück auf eine Initiative der European Organisation for Rare Diseases (EURODIS), einer nicht staatlichen patientengesteuerten Allianz von europäischen Patientenorganisationen aus dem Jahre 2008. Die erste Auflage dieses Tages hat am 29. Februar 2008 in Kanada und Euro­pa stattgefunden.
Das Cornelia-de-Lange-Syndrom (CdLS) wird als Dysmorphiensyndrom bezeichnet, was multiple angeborene Fehlbildungen meint, die meist im Zusammenhang mit einer kognitiven Behinderung in Erscheinung treten. Erstmals 1933 hat Cornelia de Lange, eine niederländische Kinderärztin, dieses Syndrom beschrieben. Im Jahr 2004 kann die Forschung bei betroffenen Menschen ein Gen (NIPBL) identifizieren, dessen Mutation verantwortlich für das CdLS ist. Veränderungen des NIPBL-Gens können nur bei 50 Prozent der betroffenen Personen als Ursache nachgewiesen werden.
Die Zeitung «D’REGION» hat mit dem betroffenen Ehepaar Marion und Philip Burkhard aus Burgdorf gesprochen, deren Sohn Louie das CdLS-Syndrom aufweist.

«D’REGION»: Wie sind Schwangerschaft und Geburt Eures Sohnes Louie verlaufen?
Philip Burkhard: Louie war ein Wunschkind, geboren am 5. Oktober 2017.
Marion Burkhard: Schwangerschaft und die schnelle Geburt verliefen völlig ohne Komplikationen. Es gab niemals Anzeichen, dass etwas nicht stimmen könnte. Allerdings hat der Arzt von Anfang an darauf hingewiesen, dass es ein kleines Kind würde. Da ich selber ein kleines Baby war, hatte niemand Bedenken.

«D’REGION»: Wann gab es erste Anzeichen für ungewöhnliche Vorkommnisse?
Marion Burkhard: Nach der eingeleiteten Geburt (es wurde vermutet, dass die Plazenta das Kind nicht mehr ausreichend ernährt) wurde es plötzlich hektisch, weil Louie nicht richtig geatmet hat. Er musste erstversorgt (Magensonde, Antibiotikum, Sauerstoff) und nach vier Stunden ins Berner Kinderspital verlegt werden.

«D’REGION»: Wie lauteten die weiteren Informationen der Ärzte?
Marion Burkhard: Anfangs wurden wir informiert, Louie habe eine Blutentzündung. Von meiner Hebamme wusste ich, dass Kinder mit einem Geburtsgewicht unter zwei Kilogramm immer ins Kinderspital eingeliefert werden. Louie wog nur 1780 Gramm und war 41 Zentimeter gross. Trotz 37,2 Schwangerschaftswochen entsprach er eigentlich einer Frühgeburt.
Ich musste nach der Geburt erst einmal schlafen, aber bereits am späten Nachmittag konnten wir unseren Sohn zum ersten Mal besuchen. Louie blieb drei Tage auf der Intensivstation, es war sehr hektisch. Immer neue Komplikationen traten auf, aber es bestand immerhin keine direkte Lebensgefahr. Anschliessend blieb er drei Wochen auf der Neonatologie. Philip und ich haben unseren Sohn täglich während vieler Stunden besucht. Die Invalidenversicherung (IV) hat die Kosten übernommen, da das Geburtsgewicht unter zwei Kilogramm lag.

«D’REGION»: Wie ging es weiter?
Marion Burkhard: Während Louie noch auf der Intensivstation lag, hat eine Genetikerin erste Untersuchungen durchgeführt. Wir gehen davon aus, dass sie wegen Auffälligkeiten wie etwa der Gesichtszüge von Louie entsprechende Vermutungen hatte. Diese Genetikerin hat uns offen auf diese der CdLS-Erkrankungen entsprechenden Auffälligkeiten hingewiesen und erläutert, dass wir nach drei Monaten einen Test machen lassen können. Im Januar 2018 wurde der grosse Gentest gemacht – auch bei uns Eltern – und am 18. April 2018 kam die Bestätigung, dass Louie mit der schwereren Form des CdLS krank ist und wir zwei ohne Befund sind. Laut den Ärzten ist es «eine Laune der Natur, unvorhersehbar, ungewollt, unverschuldet». Bei 10 000 bis 30 000 Geburten findet das einmal statt, also kommen laut Statis­tik in der Schweiz jährlich zwei solche Kinder auf die Welt.
Philip Burkhard: Wir haben uns so weit möglich über den Krankheitsverlauf von CdLS und die Auswirkungen im Alltag informiert. Auch von den Ärzten sind wir einfühlsam begleitet worden. Es ist schwer, wenn man als Eltern die voraussichtlichen Einschränkungen und Behinderungen erfährt, die normalerweise solche Kinder treffen. Wir haben beschlossen, jeden Tag so zu nehmen, wie er kommt, und uns an kleinen Fortschritten zu freuen. Immerhin kann Louie im Gegensatz zu anderen Betroffenen laufen. Sein Verhältnis zu seiner Schwester Malou, geboren am 6. Dezember 2021, ist überaus herzlich und vertraut.

«D’REGION»: Wie verläuft Euer normaler Alltag?
Philip Burkhard: Da ich ganztags arbeite, kann ich nur von den Randzeiten sprechen. Eigentlich normal, wir haben eine friedliche Koexistenz zu viert. Alles hat sich eingespielt. Louie ist ein echter Schatz, er ist ein Sonnenschein. Wir alle lieben ihn sehr. Er sucht offensichtlich den Kontakt zu seiner Schwester und ahmt sie in vielem nach, was ihn weiterbringt. Auch emotional, er ist seither offener und kann seine Gefühle besser zeigen.
Marion Burkhard: Er geht merklich offener auf seine Mitmenschen zu, was sehr schön ist. Er bewegt sich weniger in seiner abgeschotteten eigenen Welt, sie spielen miteinander. Sie lernen und profitieren voneinander. Dabei ist zu bedenken, dass ich in Louie keinen Fünfeinhalb-Jährigen vor mir habe, sondern mit Malou zusammen eher Zwillinge von 14 Monaten. Louie ist absolut bei allem auf Hilfe angewiesen. Und muss rundum beschützt werden, da er keine Gefahr erkennen kann. Entsprechend ist unsere Wohnung eingerichtet; alles, was sticht, brennt, schmerzt, gefährlich ist usw., muss ausser Reichweite von ihm sein. Eine normale Kommunikation ist nicht möglich, Warnungen verhallen lebenslang ungehört.
Die Öffentlichkeit reagiert sehr positiv auf ihn. Da er kleinwüchsig ist, spielt immer noch der «Jö»-Effekt. Er schreit nicht laut, fällt nicht unangenehm auf, also reagieren wirklich alle freundlich. Doch nach einem Blick in das kleine Gesicht merken die Menschen, dass etwas anders ist. «Ja, er ist behindert», sage ich dann. Mein Visavis ist dankbar für diese Offenheit und plaudert weiter mit Louie, der dann vielfach die Hände dieser Person streichelt.


Gerti Binz


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