Gedanken zum Jahreswechsel – Rückblick und Ausblick
«Nehmt hin die Welt», rief Zeus von seinen Höhen den Menschen zu. «Nehmt, sie soll Euer sein! Euch schenk ich sie zum Erb und ewgen Lehen – doch teilt euch brüderlich darein.» Dieses Zitat von Friedrich Schiller stammt aus dem Gedicht «Die Teilung der Erde». Zeus, Göttervater, oberster und mächtigster Gott der griechischen Mythologie, würde sich heute die Augen reiben über seine Grosszügigkeit, ebenso Schiller (1759), der sich «darauf einen Reim gemacht hat».

Und der göttliche Auftrag «Macht Euch die Erde untertan» ist wohl auch falsch ausgelegt, sieht man auf das Weltgeschehen. Da wurde die Verantwortung auf die Menschen übertragen und damit viel Unheil angerichtet. «Der Ackermann griff nach des Feldes Früchten, der Junker pirschte durch den Wald, der Kaufmann nimmt, was seine Speicher fassen, der Abt wählt sich den edlen Firnewein, der König sperrt die Brücken und die Strassen und sprach, der Zehnte sei mein …», heisst es bei Schiller weiter.

Diese Teilung weckte Begehrlichkeiten, heute wie vor mehreren Tausend Jahren. Trotz aller phantastischen Entwicklungen zum Wohle der Menschheit sind Neid, Hass und Gier deren grosse Widersacher. Es ist, als hätte jemand nun die «Büchse der Pandora» vollends geöffnet, und das Einzige, das noch immer drin ist, ist die Hoffnung: darauf, dass es – was auch immer – besser wird. Die Hoffnung, dass echte Intelligenz das Zeitgeschehen beeinflussen kann, dass sich die Menschen – immer noch glaubend, die Krönung der Schöpfung zu sein – auf die Bewahrung der Schöpfung besinnen.

Antoine de Saint-Exupéry rät, «die Zukunft nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen». Dies wäre sicher im Sinne von Zeus. In diesem Sinne ist das Jahresende kein Ende und kein Anfang, sondern die Herausforderung: weiterleben mit der Weisheit, die uns die Erfahrung gelehrt hat.

Sylvia Mosimann