Immer vorwärts – aber nicht zu schnell

  30.06.2021 Aktuell, Foto, Wirtschaft, Burgdorf, Region, Politik

Die Aula in der Gsteighofschule ist coronakonform mit Abstand bestuhlt, die Eintrittskontrolle für die früh angemeldeten Gäste mit Eintrittsbillett lückenlos. Wer zu spät angefragt hat, wird auf den Livestream verwiesen. Nicht wenige machen davon Gebrauch, nicht zuletzt deshalb, weil auch sie an der Verlosung des Elektrovelos teilnehmen und in der Diskussionsrunde Fragen an die vier Redner stellen können. Der Gewinner heisst Walter Wirth.

CO2-Abstimmung dominiert
SRF-Moderatorin Sonja Hasler – in Burgdorf seit Jahren als kompetente Diskussionsleiterin ein Begriff – kommt auf das am 13. Juni 2021 vom Schweizer Stimmvolk knapp abgelehnte CO2-Gesetz zu sprechen. Die Vorlage sei gut gestartet, aber im Lauf der Wochen infolge der geballten Inseratekampagne von Gegnern und Lobbyisten gescheitert. Nun müsse ein für alle akzeptabler Weg aus der Klimakrise gefunden werden.
SP-Nationalrat Roger Nordmann ist Mitglied der nationalrätlichen Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie sowie Buchautor. In seinem 2019 erschienenen Buch «Sonne für den Klimaschutz: Ein Solarplan für die Schweiz» zeigt er einen möglichen Weg für die Schweiz auf, mit welchen Aktivitäten das anvisierte Klimaziel zu erreichen ist. Am Energie-Symposium erläutert er den Anwesenden mit zahlreichen Tabellen die Möglichkeiten von erneuerbaren Energien.
Er betont, dass die Verbrennung fossiler Energie 80 Prozent der Treibhausgase der Schweiz verursacht. Die Elektrifizierung des Verkehrssys­tems bedeute weniger Energieverlust. Der Bau elektrischer Wärmepumpen müsse erhöht werden. Immerhin habe sich der Stromverbrauch in den letzten zehn Jahren stabilisiert, da verbesserte Instrumente und Installationen weniger Energie benötigen.

Photovoltaik solle Engpässe lösen
So könne der zusätzliche Strombedarf von 40 bis 45 TWh (Terrawattstunde oder 1 Milliarde Kilowattstunden kWh) pro Jahr nach dem Ausstieg aus Atom- und fossiler Energie gedeckt werden, um die gesteckten Klimaziele zu erreichen. Zur besseren Verständlichkeit fügt er an, dass «Grande Dixence pro Jahr 1 TWh produziere. Er dokumentiert, wie Verkehr und Haushalte vollständig von fossilen auf erneuerbare Energien wechseln sollten. Dafür eigne sich die Photovoltaik bestens, deren Kapazität von heute zwei GW (1 GW – 1 Milliarde Watt (W) oder 1 Million Kilowatt (kW)) um ein 25-faches auf 50 GW zu erhöhen sei.
Er räumt ein, dass ein umfassender Ausbau von Sonnenenergie in den Sommermonaten zur Überproduktion von kaum verkaufbarem Strom führen und die Netzkapazität überlasten würde. Er erläutert mit Zahlen und Kurven den «Peak Shaving» (temporäre Begrenzung) in der Zeit von Juni bis September, der die Leistung der Solaranlage in diesen kritischen Phasen auf 35 Prozent limitieren würde. Für die Wintermonate empfiehlt er zur Deckung fehlender Energie den Ausbau von Saisonspeichern (Wasser, Wärmespeicher usw.) sowie neue Gaskraftwerke. «So könnten die Stromschwemme im Sommer und die Stromlücke im Winter entschärft werden.»
Abschliessend stellt Nordmann eine «Dekarbonisierung von 86 Prozent» in den Raum, wobei sich dank Einsatz von Photovoltaik im Lauf der Jahre grosse Energiemengen realisieren lassen. Auch hier belegt er seine Ausführungen dieser «Umstellung einer Wirtschaftsweise, speziell der Energiewirtschaft, in Richtung eines niedrigeren Umsatzes von Kohlenstoff» mit zahlreichen Tabellen und Kurven.

Engagierte Diskussionen
Moderatorin Sonja Hasler bittet anstelle der unter grösseren Nachwehen der zweiten Corona-Impfung leidenden Burgdorfer FDP-Nationalrätin Christa Markwalder als Ersatz Hubert Hofmann, Inhaber und Geschäftsführer der gleichnamigen Garage, ans freie Rednerpult. Sie sucht ausdrücklich keine rot-grüne Person, sondern möglichst eine aus dem gegnerischen Lager der CO2-Vorlage. Hofmann outet sich als SVPler, der die Vorlage abgelehnt hat.
Hier hakt Befürworter Nordmann umgehend ein: «Die Vorlage ist am Vorlagetext und nicht am Inhalt gescheitert. Mieter, Hauseigentümer, Ferienreisende usw. haben infolge der Inseratekampagnen der Gegner massive finanzielle Mehrkosten befürchtet. «Fliegen nur für Reiche, vom Staat verordnete Sanierungsmassnahmen bei Liegenschaften, zu geringe Rückerstattungen, unrealistische Warnungen von Öl- und Autolobby usw.» Rot-Grün habe die nun gescheiterte Vorlage mit ihren Anliegen überladen. Hofmann räumt ein, dass er am Abstimmungstag «froh gewesen sei, aber nicht jubiliert habe. Ich bin für Klimaschutz, aber nichts überstürzen.»
Reto Rigassi, Verantwortlicher für die Deutschschweiz von Suisse éole (gemeinsam für Windenergie), bricht «mehr als nur eine Lanze» für die Wind­energie in der Schweiz, die langsam an Bedeutung gewinnt. Zwar sei er sehr enttäuscht über die Ablehnung der dringend nötig gewesenen CO2-Vorlage, aber es gebe auch Lichtblicke. Gerichtlich seien in den letzten Jahren verschiedene geplante und lang verzögerte Windanlagen genehmigt worden. Zudem habe der Souverän von Appenzell Innerrhoden vergangenen Mai mit 69,2 Prozent die Revision des Energiekonzeptes angenommen. Das Gesetz sieht als minimales Ausbauziel die Produktion von 10 Millionen Kilowattstunden Windstrom pro Jahr vor. Rigassi wertet das Ergebnis «als starkes Bekenntnis für die Windenergie und als Zeichen, dass die Appenzeller den Wert der Windenergie für eine sichere, lokale Stromversorgung erkannt haben». Er fordert «realistische Ziele bei der CO2-Reduktion».
Laut Hans Wach, Geschäftsleiter von Gasverbund Mittelland AG, «muss Gas ein Teil der Lösung sein, da ohne Einbezug von Gas nach Abschalten der Atomreaktoren und Verbannung von fossilen Brennstoffen weder die gesicherte Stromversorgung noch das Netto-Null-Ziel erreicht werden kann». Nach 90 Minuten sind sich Publikum und Redner einig, dass noch zahlreiche Probleme gelöst und unterschiedliche Vorgehensweisen zusammengeführt werden müssen, bis Netto-Null-CO2 Realität werden kann.

Gerti Binz


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