«Gotthelf – ein literatur­geschichtliches Rätsel?»

  30.10.2019 Aktuell, Foto, Kultur, Gesellschaft, Lützelflüh

Am vergangenen Samstag lud der Verein Gotthelf-Stube Lützelflüh zu seiner jährlichen Hauptversammlung in den Gasthof Ochsen ein. Vereinspräsidentin Verena Hofer begrüsste bei prächtigem Herbstwetter zahlreiche Gotthelf-Freunde aus nah und fern. Anwesend waren auch Nachkommen des Pfarrers und Schriftstellers Albert Bitzius. Die Vereinsmitglieder brachten Samuel von Rütte, einem Ur-Ur-Ur-Enkel von Gotthelf, zu seinem neunten Geburtstag ein Happy-Birthday-Ständchen dar.
Die Traktanden wurden rasch und speditiv abgewickelt, sodass schon bald zum gemeinsamen Mittagessen übergegangen werden konnte.

Der wohl grösste Skandal der Schweizer Literaturgeschichte
Am Nachmittag hielt Dr. Thomas Multerer, ehemaliger Rektor des Gymnasiums Oberaargau, im Gotthelf Zentrum einen öffentlichen Vortrag. Multerer referierte über den sogenannten «Gotthelfhandel», den wohl grössten Skandal der Schweizer Literaturgeschichte. Der Schriftsteller C. A. Loosli, der Philosoph von Bümpliz, publizierte im Februar 1913 einen satirischen Aufsatz mit dem Titel «Gotthelf – ein literaturgeschichtliches Rätsel?», in dem er die These aufstellte, nicht Pfarrer Bitzius habe die unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf veröffentlichten Werke geschrieben, sondern der Lützelflüher Landwirt Johann Ulrich Geissbühler. Der Nicht-Akademiker Loosli, der sich mit Erfolg für die Herausgabe einer neuen wissenschaftlichen Gotthelf-Ausgabe eingesetzt hatte, sich allerdings mit den Nachfahren zerstritt und schon bald von der Mitarbeit an der neuen Edition ausgeschlossen wurde, beabsichtigte mit seiner scherzhaften Behauptung, die Zunft der Philologen zu provozieren.
Sein Artikel löste einen Sturm der Entrüstung aus: In der Schweizer Presse erschienen innerhalb zweier Wochen rund 430 Stellungnahmen, in denen Loosli teils heftig angefeindet und persönlich diffamiert wurde. Nur einige Westschweizer Presseorgane erkannten auf Anhieb den satirischen Charakter des Texts. In einer Erklärung stellte Loosli klar, sein «Scherzartikel» auf Kosten der Germanisten sei ein bahnbrechender Erfolg gewesen. Langfris­tig büsste er für seinen Narrenstreich allerdings schwer: Die Attacken auf den unbequemen Querdenker gingen weiter. Loosli musste als Präsident des von ihm mitgegründeten Schriftstellervereins zurücktreten und seine Bücher fanden nicht mehr die Beachtung, die sie verdient hätten. Zum Schweigen liess sich der kritische Kopf allerdings nicht bringen.
Ob Gotthelf selbst über den Scherz von Loosli mit einem Lächeln hinweggesehen hätte, wissen wir nicht. Allerdings nahm auch er Literaturwissenschaftler und Rezensenten aufs Korn. Verena Hofer zitierte in ihrer Einleitung zum Referat folgende Passage aus einem Brief von Gotthelf: «Sie Gelehrte und andere Rezensenten amüsieren mich immer mächtig und zwar mit Jhrem eminenten Scharfsinn, was kein Verstand der Verständigen sieht, das entdeckt in Einfalt ein gelehrt Gemüt. Jch las letzthin eine lange Rezension von R. Taillandier […]. Potz Hagel, was ich da für einen Respekt kriegte vor einem gewissen, mir ganz unbekannt gebliebenen Schweizer Jeremias Gotthelf. Jch nahm mir vor, nächstens mit ihm Bekanntschaft zu machen und ebenso mit seinen Büchern.»

Markus Hofer


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