Führt der Hausärztemangel zum Notfall?

  24.01.2019 Aktuell, Foto, Burgdorf

«Die hausärztliche Versorgungslage in der Zähringerstadt ist gegenwärtig prekär», orientiert Dr. med. Jürg Mischler. «Dank des kürzlichen Zuzugs eines neuen Ärzteehepaars sowie der Hausarztpraxis im Spital Burgdorf ist die Grundversorgung fürs Erste sichergestellt. Doch in den nächsten Monaten und Jahren wird sich die Situation zuspitzen. Viele Burgdorferinnen und Burgdorfer werden Mühe bekunden, in der Stadt einen Hausarzt zu finden», befürchtet der Mitbegründer der «praxis15»-Ärztegruppe an der Bahnhofstrasse 15. Eine Trendwende ist mittelfristig nicht zu erwarten – im Gegenteil: «Bis Ende 2021 werden voraussichtlich fünf Burgdorfer Haus-
ärzte ihre Praxen schliessen. Konkrete Nachfolgelösungen sind gegenwärtig – jedenfalls soweit mir bekannt – nicht in Sichtweite. Auch wenn einzelne Praxen neu eröffnen, wird sich die Problematik keineswegs entschärfen.»

Einzelpraxen verlieren an Bedeutung
Ein Grund, dass Burgdorf im Vergleich zu den umliegenden Gemeinden für Hausärzte wenig attraktiv ist, liegt gemäss Mischler in den kantonalen Bestimmungen über die sogenannte Selbstdispensation, also der Abgabe von Arzneimitteln durch Medizinalpersonen. In Standortgemeinden mit mehr als zwei öffentlichen Apotheken dürfen Ärzte nur beschränkt Medikamente abgeben – in Notfällen, bei Hausbesuchen und der Erstversorgung. Damit entfällt für die Hausärzte in Burgdorf eine wichtige Einnahmequelle.
Allerdings macht sich die Ärzteknappheit nicht nur in der Stadt, sondern auch in ländlichen Gemeinden bemerkbar. Die nachrückende Generation von Hausärzten will vielfach Teilzeit arbeiten, um Beruf und Familie besser miteinander vereinbaren zu können. Das damit verbundene Bedürfnis nach neuen Organisationsmodellen führt dazu, dass die klassische Einzelpraxis, in welcher sich der Hausarzt als Einzelkämpfer durchschlägt, allmählich verschwindet.

Humane Individualmedizin
Bereits seit längerer Zeit nimmt die «praxis15» an der Bahnhofstrasse mangels Kapazität keine neuen Patientinnen und Patienten mehr an. Auch andere Hausärzte in der Stadt sind teilweise ausgelastet. Für Menschen mit verschiedenen Leiden, für Betagte und chronisch Kranke ist die Möglichkeit, eine nahe gelegene Hausarzt-Praxis zu besuchen, jedoch von enormer Wichtigkeit, zeigt sich Mischler überzeugt: «Der Hausarzt begleitet Patienten oft über einen langen Zeitraum hinweg, sorgt für Kontinuität, behält den Überblick und koordiniert. Im Idealfall entsteht zwischen Arzt und Patient über die Jahre ein Vertrauensverhältnis, das es ermöglicht, auch in schwierigen Situationen offen miteinander zu kommunizieren. Der persönliche Kontakt begünstigt eine personenzentrierte, humane und effiziente Individualmedizin. Als Hausarzt bin ich mit dem Hintergrund meiner Patienten vertraut und kann deshalb bei Bedarf stets individuelle, der Lebenssituation angepasste Massnahmen ergreifen. Dies ist nicht nur aus menschlicher Perspektive enorm wichtig, sondern bringt auch ökonomische Vorteile. Gemäss einer aktuellen Studie des Instituts für Hausarztmedizin in Zürich behandeln Haus-
ärzte fast 95% aller Fälle ohne weitere Überweisung an Spezialisten. Sie arbeiten bei hoher Qualität kostengünstig. Ein manifester Hausärztemangel verursacht steigende Gesundheitskosten, führt damit auf lange Sicht zu weiteren Erhöhungen der Krankenkassenprämien und – aufgrund der Teilfinanzierung der Spitäler durch den Kanton – letztendlich zu Steuererhöhungen.»
 
Überlastung des hausärztlichen Notfalldiensts
Infolge des Hausärztemangels, erklärt Mischler, nehmen Patientinnen und Patienten vermehrt den ärztlichen Notfalldienst in Anspruch – auch wenn kein dringender Notfall vorliegt. Dadurch verschärft sich wiederum die Belastung für die Hausärzte, da das kantonale Gesundheitsgesetz die Notfalldienstpflicht vorsieht. «Dank organisatorischer Optimierungsmassnahmen in der jüngeren Vergangenheit gelang es bisher, die Handhabung des Notfalldienstes zu bewältigen. Für Entlastung sorgt trotz stetig steigender Fallzahlen etwa die hausärztliche Notfallpraxis HANP im Spital Emmental. Doch allmählich steuern Burgdorf und das Emmental auf einen Punkt zu, wo die Belastung zu gross wird. Notfalldienst in übermüdetem Zustand zu leisten ist gefährlich. Schlafmangel und Zeitdruck sind die häufigsten Ursachen für Fehler in der medizinischen Tätigkeit», warnt Mischler. «Zudem sollte meines Erachtens die Finanzierung des Notfalldienstes grundsätzlich überdenkt werden. Diese basiert auf den erbrachten Leistungen, welche dem Patienten in Rechnung gestellt werden. Mit diesem Honorar lässt sich unmöglich der Lohn eines angestellten Arztes für den sogenannten Hintergrund-Notfalldienst finanzieren, bei dem er über lange Zeit erreichbar sein muss und im Bedarfsfall ausrückt. Eine steigende Anzahl von jüngeren Allgemeinmedizinern zieht heute ein Angestelltenverhältnis dem freien Unternehmertum vor – der Notfalldienst erschwert die Durchsetzung eines solchen Organisationsmodells.»
Um den Hausärztemangel in Burgdorf zu bekämpfen, plädiert Jürg Mischler für eine Reorganisation des Hintergrund-Notfalldienstes sowie für die Förderung von Praxeneröffnungen und Umstrukturierungen in Gruppenpraxen mittels Finanzierungshilfen und dem Bereitstellen von geeigneten Räumlichkeiten durch die Stadt. In Zusammenarbeit mit dem Spital Emmental soll der Hausärztenachwuchs weiter gefördert und die Organisation des Notfalldiensts optimiert werden.

Eine Arbeitsgruppe sucht nach Lösungen
Mit seinen Anliegen ist Jürg Mischler bereits an Stadtpräsident Stefan Berger herangetreten. Gegenwärtig analysiert eine Arbeitsgruppe – bestehend aus Vertretenden der Stadt, der Hausärzteschaft, unter ihnen Jürg Mischler, sowie des Spitals Emmental – die Situation und sucht nach geeigneten Möglichkeiten zur langfristigen Überwindung des Hausärztemangels.  «Junge Hausärztinnen und Hausärzte sind umworben. Die Attraktivität der Arbeitsbedingungen bestimmt, wo sie sich niederlassen», betont Mischler. Auf lange Sicht besteht jedoch Hoffnung, dass zukünftige Mediziner vermehrt wieder den Beruf des Hausarztes wählen.

Markus Hofer

 

Interview mit Stefan Berger, Stadtpräsident von  Burgdorf

«D’REGION»: Hatten Sie bereits einmal Schwierigkeiten, in Burgdorf einen Hausarzt zu finden oder kennen Sie Personen aus Ihrem Umfeld, die auf eine Praxis in den umliegenden Gemeinden ausweichen mussten?
Stefan Berger: Selber habe ich keinen Hausarzt und habe bisher auch keinen gesucht. Bei meiner Erkrankung bin ich via Notfall ins Spital überwiesen worden. In meinem Umfeld gibt es jedoch teilweise Probleme, einen Hausarzt zu finden. Ich kenne Personen, welche einen Hausarzt in umliegenden Gemeinden konsultieren.

«D’REGION»: Als wie prekär beurteilen Sie die Lage der hausärztlichen Grundversorgung in der Zähringerstadt?
Stefan Berger: Im Moment kann der Bedarf mit den bestehenden Hausärzten und der im Spital Burgdorf neu eröffneten Hausarztpraxis, welche durch das Spital Burgdorf betrieben wird, knapp gedeckt werden. Längerfristig kann die Situation mit der Pensionierung von praktizierenden Hausärzten sowie aufgrund des Einwohnerwachstums von Burgdorf mit zwölf Entwicklungsarealen aber kritisch werden.

«D’REGION»: Existieren aussagekräftige Statistiken über das Verhältnis von Einwohner/innen und Hausärzten?
Stefan Berger: Zahlen existieren, wurden aber noch nicht im Detail aufgearbeitet. Dies nimmt die eingesetzte Arbeitsgruppe in Angriff.

«D’REGION»: Ist das Problem in Burgdorf akuter als in den übrigen Gemeinden des Emmentals? Falls ja – aus welchen Gründen?
Stefan Berger: Die Situation in Burgdorf ist etwa im Vergleich mit der Gemeinde Kirchberg akuter. Ein Problem stellen sicherlich die reduzierten Möglichkeiten zur Abgabe von Medikamenten in Burgdorf dar. Die Abgabe durch den Hausarzt ist gesetzlich über die Anzahl an Apotheken in der Standortgemeinde geregelt. Wir können politisch zwar versuchen, Einfluss zu nehmen, dies lässt sich aber nicht von heute auf morgen lösen. Eine weitere Herausforderung liegt im Wandel des Hausarzt-Berufs. Eine Anpassung auf neue Praxis- und Arbeitszeit-Modelle wird in Burgdorf beispielsweise mit Gemeinschaftspraxen gelebt und gefördert.

«D’REGION»: Sieht der Gemeinderat Handlungsbedarf? Welche Möglichkeiten gibt es für die Stadt, dem Ärztemangel entgegenzuwirken?
Stefan Berger: Längerfristig sehen wir für die ärztliche Grundversorgung ein Problem, sofern es uns nicht gelingt, die Pensionierungen aufzufangen. Dafür müssen wir gemeinsam als Stadt mit den Hausärzten und dem Spital eine Lösung finden. Als Stadt haben wir einen relativ kleinen Einfluss, können aber bei Arealentwicklungen in Gesprächen mit Investoren darauf hinweisen, dass beispielsweise eine Gruppenpraxis an diesem Standort sinnvoll wäre. Das Spital ist mit interessierten Hausärzten daran, bei einer solchen Arealentwicklung eine neue Gruppenpraxis in Burgdorf aufzugleisen. Es leistet dabei organisatorische Starthilfe.

«D’REGION»: Wie wichtig ist eine gute hausärztliche Gesundheitsversorgung für die Attraktivität von Burgdorf?
Stefan Berger: Neben einer guten Infrastruktur, vielfältigen Bildungs- und attraktiven Freizeitangeboten erachten wir eine gut funktionierende hausärztliche Grundversorgung für alle Teile der Bevölkerung, also auch für Kinder, als sehr wichtig für die Standortattraktivität.

«D’REGION»: Teile der Ärzteschaft schlagen vor, den Notfalldienst zu reorganisieren. Wie beurteilen Sie diese Massnahme?
Stefan Berger: In der Organisation des Notfalldienstes spielt das Spital eine zentrale Rolle. Verhandlungen mit den Ärzten laufen und das Netzwerk besteht. Das Spital ist in engem Kontakt mit den Hausärzten und hat mit der eigenen neuen Hausarztpraxis mit zwei Ärzten beim Notfall auch bereits einen wichtigen Schritt zur langfris­tigen Versorgung der Bevölkerung geleistet.  Interview: Markus Hofer

 

Interview mit Anton Schmid, CEO des Spitals Emmental

«D’REGION»: Ist der Hausärztemangel in der Stadt Burgdorf auch beim Regionalspital spürbar? Wie ernst ist die Situation aus Ihrer Sicht?
Anton Schmid: In Burgdorf kommt die Generation der Babyboomer – wie überall – ins AHV-Alter, auch die Hausärzte. Gleichzeitig wächst die Bevölkerung und damit auch der Bedarf an Haus- und Kinderärzten. Die Situation ist im ganzen Emmental und in allen ländlichen Regionen ernst. Das Spital Emmental reagierte darauf unter anderem mit der Eröffnung einer eigenen Hausarztpraxis im Spital Burgdorf Anfang 2018. Ausgangspunkt war die Schliessung einer Hausarztpraxis und die Betreuung derer Patienten auf Wunsch des pensionierten Arztes. Unterdessen steht dieses Angebot allen zur Verfügung, die in Burgdorf keinen Hausarzt finden. Im Notfall nehmen die Patientenzahlen seit Jahren zu. Dank vorgeschaltetem hausärztlichem Notfall, moderner Räume und effizienterer Abläufe im Neubau, aber auch dank Personalaufstockungen und mehr ambulanten statt stationären Spitalbehandlungen können wir Schritt halten, ohne das Gesundheitswesen mit Zusatzkosten zu belasten.

«D’REGION»: Gegenwärtig sucht eine Arbeitsgruppe in Zusammenarbeit mit dem Spital Emmental Massnahmen, um den Hausärztenachwuchs zu fördern. Welche Ideen stehen im Raum?
Anton Schmid: Es gibt erste Gedankenentwicklungen, die auf die Umsetzbarkeit und den langfristigen Nutzen für die Bevölkerung geprüft werden müssen. Für konkrete Aussagen ist es noch zu früh. Wir sind aber schon seit Jahren bestrebt, zusammen mit den Hausärzten die hausärztliche Versorgung im gesamten Emmental zu fördern und im Rahmen unseres Aus- und Weiterbildungsauftrags jedes Jahr rund ein Dutzend Assistenzärzte für Praktika in die Praxen zu vermitteln. So konnten wir bereits einige Nachwuchskräfte zu einer Hausarzttätigkeit im Emmental motivieren und dadurch die hohe Arbeitsbelastung der Hausärzte mildern. Interview: Markus Hofer


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