Publikumsvortrag zum Thema Depression

  29.04.2014 Aktuell, Burgdorf, Gesellschaft

Übermorgen Donnerstag, 1. Mai 2014, 19 bis 20 Uhr, wird die Serie der öffentlichen Vorträge im Kurslokal des Spitals Emmental in Burgdorf fortgesetzt. Diesmal ist Dr. med. Thierry de Meuron, stellvertretender Chefarzt Psychiatrie, an der Reihe. Sein Publikumsvortrag heisst «Depression im Spagat zwischen Gesellschaft und Medizin». Der Vortrag mit Fragerunde ist gratis, eine Anmeldung nicht erforderlich.

«D’REGION»: «Depression im Spagat zwischen Gesellschaft und Medizin», so heisst Ihr Referat. Was werden Sie vermitteln, wo liegt das Schwergewicht?
Dr. de Meuron: Der Spagat steht für eine ungemütliche, spannungsvolle Körperstellung und ist ohne konkrete Auflagefläche schwer vorstellbar. Also werde ich mittels einer Gedankenreise versuchen, die «Auflageflächen» der Depression zu erkunden. Ich werde versuchen, die Bedeutung der Gesellschaft und jene der Medizin für die Depression zu beleuchten. Der Spagat bezeichnet eine qualvolle Position, ist somit auch ein Sinnbild für die Menschen, welche zwischen unterschiedlichen Anforderungen und Möglichkeiten ein Gleichgewicht suchen oder an einer Depression leiden. Anders gesagt, werde ich aufzuzeigen versuchen, wie sich das Verständnis der Depression in den letzten 100 Jahren aus gesellschaftlicher und medizinischer Sicht verändert hat, wie gesellschaftliche Veränderungen auch die Wahrnehmung und die Behandlung der Depression beeinflussen. Der Schwerpunkt wird im Versuch liegen, das Wesen der Depression – einer komplexen Erkrankung – besser zu verstehen. Damit will ich auch
Möglichkeiten aufzeigen, um im Umgang mit betroffenen Menschen verständnisvoller zu werden und die Behandlung der
Depression dadurch zu unterstützen.

«D’REGION»: Gelingt es depressiven Menschen zuweilen, ihre Erkrankung geheim zu halten?
Dr. de Meuron: Eine depressive Erkrankung ist in der Regel mit starken Schamgefühlen verbunden. Die betroffene Person befürchtet, dass sie zum grossen Teil Verantwortung für ihr Leiden trägt, und denkt, an diesem Zustand «selber schuld» zu sein. Zudem führt die Einschränkung durch die Krankheit zu vielfältigen psychischen und körperlichen Einbussen. Betroffene können zum Beispiel ihre Arbeit nicht mehr in gewohnter Art und Qualität erledigen, was wiederum Schamgefühle auslöst. So ist es sehr verständlich, dass Betroffene versuchen, ihren Zustand gegenüber den Angehörigen oder gegenüber der Gesellschaft zu maskieren. Zuweilen gelingt es recht lange, den «inneren Zustand» anderen gegenüber geheim zu halten.

«D’REGION»: Wie soll die Gesellschaft reagieren, wenn sie weiss, dass jemand an Depressionen leidet?
Dr. de Meuron: Optimal wäre es, dass «die Gesellschaft», also wir, uns zuerst den eigenen Vorurteilen – eben auch den gesellschaftlichen – über Depression stellen würden und dass wir anerkennen könnten, dass es nicht immer gelingt, den Spagat zu halten. Wir müssten uns zum Beispiel bewusst werden, dass die Depression nicht mit «willensschwach» gleichzusetzen ist. Mit weniger Vorurteilen wäre es uns möglich, unbelasteter an die Erkrankten heranzutreten und mit ihnen zu kommunizieren. Wenn Zeichen einer Erkrankung sichtbar werden, also Symptome auftreten, wäre es wichtig, mit den Erkrankten gemeinsam Möglichkeiten zu suchen, zuerst die Symptome zu lindern, dann in weiteren Schritten zu versuchen, näher an die Wurzeln zu gehen und allenfalls tiefer liegende Probleme anzugehen. Wichtig ist es, zu berücksichtigen, dass es sich um eine gefährliche, potenziell lebensbedrohliche Erkrankung handelt.

«D’REGION»: Welches sind die medizinischen Möglichkeiten bei Depressionen?
Dr. de Meuron: Die medizinischen Möglichkeiten sind vielfältig. Selbstverständlich gehört eine genaue körperliche und psychische Abklärung voran. Der Einsatz der Möglichkeiten muss gemäss
dem körperlichen und psychischen Zustand der Erkrankten und der sozialen Situation sorgfältig evaluiert werden und reicht von Informationsvermittlung mittels Aufklärungsgesprächen oder visuellen und elektronischen Hilfsmitteln über Beratungsgespräche und teilstationäre Behandlung bis hin zum maximalen stationären Behandlungsprogramm. Psychotherapeutische Gesprächsbehandlungen können als kurze Serien oder längere Behandlungen eingesetzt werden. Inhaltlich kann unterstützend oder aufdeckend gearbeitet werden. Dies mit klar strukturiertem Vorgehen – manualisierte Behandlung – oder mit offenerem Vorgehen – der fokus­orientierten Behandlung. Es kann mit einzelnen Personen oder mit Paaren oder Familien gearbeitet werden. Oft sollten und könnten die Angehörigen einbezogen werden. Medikamente können als Vollbehandlung oder unterstützend bei vielen Symptomen eingesetzt werden. Dabei kommen unterschiedliche Medikamentenkategorien in Frage. In jenen Fällen, in denen depressive Symptome Folgen von anderen – zum Teil körperlichen – Krankheiten sind, muss die zugrunde liegende Krankheit zuerst behandelt werden.

«D’REGION»: Wie häufig sind Altersdepressionen?
Dr. de Meuron: Es ist richtig, nach dem Alter der depressiv Erkrankten zu fragen. Nun ist mein Verständnis der Depression so, dass eine Depression entstehen kann, wenn die Anforderungen an den Menschen und die entsprechenden Lösungsmöglichkeiten nicht mehr ins Gleichgewicht zu bringen sind – wenn also der Spagat nicht mehr gelingt. Dies geschieht aber in den unterschiedlichsten Lebensphasen. Kritisch sind hier die Übergangssitua­tionen, bei denen wir als Menschen viele – und manchmal zu viele – Anpassungen leis­ten müssen. So ist der Übergang vom Kind zum Erwachsenen, jener vom Berufstätigen zum Untätigen oder jener vom kraftvollen zum erfahrenen Menschen mit vielen Verlusten und Ängsten verbunden. Eine ideale, lebensgerechte Anpassung gelingt dabei nicht immer. Das Ersterkrankungsalter ist in 50 Prozent der Fälle vor dem 30. Lebensjahr. Die restlichen Fälle verteilen sich etwa gleichmässig auf die mittlere und auf die letzte Lebensphase. Das bedeutet, dass eine Depression im Zusammenhang mit der Pensionierung entstehen kann und dass Menschen dabei «in ein Loch fallen» können. Keineswegs ist dies aber der einzige typische Moment im Leben. Es ist sogar wahrscheinlicher, in früheren Lebensjahren an einer Depression zu erkranken.

«D’REGION»: Die Diagnose Depression wird nach Symptomen und Verlauf gestellt. Welches sind die markantesten Symptome und Verläufe?
Dr. de Meuron: Als Symptome stehen gedrückte Stimmung, Verminderung des Antriebs und der Aktivität, Verminderung der Fähigkeit zur Freude, des Interesses und der Konzentration im Vordergrund. Diese Symptome werden von schnellerer Erschöpfbarkeit, Schlafproblemen und Appetitstörungen begleitet. Zudem besteht ein beeinträchtigtes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Schuldgefühle und Gedanken über die eigene Wertlosigkeit sind typisch. Meistens bestehen sogenannte «somatische», also körperbezogene Symptome wie Früherwachen, Morgentief, psychomotorische Hemmung – Bewegungsarmut – oder Agitation – Erregungszustand –  sowie Gewichts- oder Libidoverlust. Zu betonen ist, dass depressive Symptome auch in vielen anderen medizinischen Zusammenhängen auftreten können. So gehören sie regelmässig zu den Angstkrankheiten, können mit oder als Folgen von Abhängigkeitserkrankungen auftreten und werden auch im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen beklagt. Zudem gibt es die beschriebenen Symptome auch als Folge von körperlichen Erkrankungen – zum Beispiel bei Schilddrüsenunterfunktionen. Gemäss unserem aktuell verwendeten Diagnosesystem – ICD-10, International Classification of Diseases – unterscheiden wir die Schweregrade leicht, mittel und schwer. Zusammengefasst handelt es sich um eine sehr heterogene Erkrankung mit unterschiedlichster Symptomatik von einmaliger, kurzer Erkrankungsphase bis zu mehrfachen Erkrankungsphasen, welche auch eine Neigung zur Chronifikation aufweisen.

«D’REGION»: Wie sieht es mit der latenten und akuten Suizidalität aus?
Dr. de Meuron: Das Zusammentreffen von schwerer psychischer Erkrankung mit körperlicher Komponente – allenfalls auch eine körperlich bedingte psychische Erkrankung – mit erheblicher Beeinträchtigung der Psyche und des Körpers bringt die Betroffenen nicht selten an die Grenze des Aushaltbaren. Durch die krankheitsbedingte Einschränkung der psychischen Leistungsfähigkeit ergeben sich Momente, welche vom Betroffenen nicht mehr als lebenswert erlebt werden. Ein Suizid verspricht in dieser Situation Abhilfe. Wenn die seelische Belastung das Aushaltbare übersteigt, ist es für Betroffene auch kaum möglich, angemessen auf die Mitmenschen zuzugehen oder Hilfe anzunehmen, da bereits alle Kraft für das «innere Überleben» aufgebraucht ist. Dann geschehen Suizide.

«D’REGION»: Sie sind Leitender Arzt im Ambulanten Psychiatriezentrum Buchmatt an der Kirchbergstrasse 97 in Burgdorf, das im November 2012 eröffnet wurde. Welches sind die bisherigen Erfahrungen?
Dr. de Meuron: Es ist zu betonen, dass das Ambulante Zentrum Buchmatt ein Teil des Psychiatrischen Dienstes des Spitals Emmental ist und dass wir dadurch eng mit den anderen Abteilungen des Psychiatrischen Dienstes und des Spitals zusammenarbeiten. Das Zusammenführen der Tagesklinik, des Ambulatoriums, der Ambulanten Pflege, der Gruppen- und Angehörigenarbeit unter ein modernes, funktionales und patientenangepasstes Dach ermöglicht uns eine intensivere und wirtschaftlichere Zusammenarbeit der Abteilungen und eine bessere Koordination der Abklärungen und Behandlungen. Diese bauliche Veränderung ermöglichte es uns auch, der in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Anzahl der Anmeldungen für Abklärungen und Behandlungen gerecht zu werden. Insgesamt sind wir sehr zufrieden mit den neuen Arbeitsbedingungen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass diese bereits in grossem Mass die Qualität der Behandlungen für unsere Patienten und Patientinnen gesteigert haben.

«D’REGION»: Bei der Eröffnung waren hier 35 Mitarbeitende mit unterschiedlichem Beschäftigungsgrad, Ärzte, Psychologen, Pflegefachleute und Sozialarbeiter angestellt. Ist der Personalbestand stabil geblieben?
Dr. de Meuron: Weitgehend sind die gleichen Mitarbeitenden angestellt. Der Personalbedarf ist unverändert. Nach wie vor ist es nicht immer einfach, genügend qualifiziertes Personal für unsere Aufgaben zu finden.

«D’REGION»: Standortleiterin im Neubau ist Verena Christen. Welches sind deren Hauptaufgaben?
Dr. de Meuron: Verena Christen und ich arbeiten im Sinne einer dualen Führung zusammen. Ihre Hauptaufgaben sind Klärung und Bearbeitung der Fragen um die Infrastruktur, sie ist Ansprechperson für übergeordnete Anliegen der Pflege und des Sekretariates. Zudem leitet sie die Tagesklinik – in dualer Führung mit der Leitenden Psychologin Rea Bolliger. Gemeinsam sind wir für die strategische Weiterentwicklung, für das Einhalten der Jahresziele und die Qualität der Behandlungen am Standort Buchmatt zuständig.

«D’REGION»: Das Zentrum dient als Ambulatorium und Tagesklinik inklusive Gruppentherapie. Wie sieht es mit den Zahlen aus?
Dr. de Meuron: Im letzten Jahr klärten wir ungefähr 650 Patientinnen und Patienten im Ambulatorium ab. Ein Teil davon wurde bei uns weiterbehandelt. In der Tagesklinik betreuten wir insgesamt 115 Patienten, was knapp 3000 Pflegetagen entspricht.

«D’REGION»: Wer entscheidet, ob ein Patient vom Ambulanten Psychiatriezentrum Buchmatt in den stationären Bereich des Spitals Emmental in Burgdorf verlegt wird?
Dr. de Meuron: Die Entscheidung über eine Verlegung in eine andere Behandlungseinrichtung übernimmt die fallver­antwortliche Person. Dies ist in der Regel eine Ärztin oder ein Psychologe. Die Patientinnen und Patienten werden grundsätzlich in die Behandlungsplanung einbezogen. Die Angehörigen werden – soweit dies möglich und sinnvoll ist – in die Entscheidungen involviert. Bei depressiven Erkrankungen kann die Krankheitseinsicht fehlen. Zum Beispiel kommt es vor, dass eine Patientin keine Notwendigkeit für eine Verlegung auf eine geschlossene Abteilung sieht, das Behandlungsteam eine solche aber als dringend erachtet. In solchen Situationen ist grosse medizinisch-ethisch-juristische Sorgfalt notwendig, um die Behandlung mit der nötigen Klarheit und Sensibilität anzugehen. Die Reaktionen auf solche Verlegungen sind so unterschiedlich wie die behandelten Patienten.

«D’REGION»: Prävention, Diagnostik und Therapie gehören zum Angebot des Spitals Emmental. Was kann sich ein Laie darunter vorstellen?
Dr. de Meuron: Prävention im psychiatrischen Bereich findet zum Beispiel im Rahmen von verschiedenen Informationsveranstaltungen statt. Die Diagnostik geht der Behandlung oder Therapie voraus. Typisch wäre folgendes Vorgehen: Eine Patientin meldet sich beispielsweise bei der Hausärztin, weil sie den Eindruck hat, dass sie auch nach mehreren Wochen nach dem Tod der betagten Mutter «nicht in die Gänge kommt». Die Hausärztin untersucht die Patientin und entscheidet, ob sie eine Behandlung beginnt. Die Hausärztin kann die Patientin auch uns zur Abklärung überweisen. Dies führt zu einem Abklärungsgespräch. Dabei werden die Vorstellungen und bisherigen Behandlungsversuche der Patientin geklärt, und in Absprache mit der Patientin wird eine Behandlung eingeleitet – sei diese psycho­therapeutisch oder medikamentös. Die Patientin könnte auch an einer Gruppe teilnehmen. Wäre eine intensivere Behandlung nötig, könnte die Ambulante Pflege psychiatrische Unterstützung zu Hause anbieten. Sollte der Ehemann Schwierigkeiten mit der Fami­lien­orga­ni­sation haben und die Patientin ein gemein­sames Gespräch mit dem Ehemann ablehnen, wäre es möglich, dass der Ehemann sich an die Angehörigenberatung wendet oder an den internen Sozialdienst verwiesen wird. Bei Zustandsverschlechterungen könnte eine tagesklinische Behandlung eingeleitet werden.

Zur Person
Dr. med. Thierry de Meuron ist 45-jährig. Er ist verheiratet, hat zwei adoleszente Kinder und wohnt in der Nähe von Bern. Dem erfolgreich abgeschlossenen Staatsexamen der Medizin in Bern
im Jahr 1995 folgten drei Jahre als Assis­tenzarzt für Innere Medizin in Château-d’Oex und Burgdorf. Die nächsten Stationen: Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Assistenzarzt Psychiatrie im Psychiatriezentrum Münsingen. Dr. med. Thierry de Meuron ist seit 2004 in verschiedenen Funktionen für die Psychiatrie am Spital Emmental tätig – zurzeit als Stellvertretender Chefarzt. Selbständige Teilzeitpraxis als Psychiater und Psychotherapeut seit 2007.

Hans Mathys


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